Dabei wollte sie zweihundert Jahre alt werden, so reich an möglichen Erfahrungen erschien ihr die Welt. Eine neue Sonderausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek widmet sich nun ihrem…
Dabei wollte sie zweihundert Jahre alt werden, so reich an möglichen Erfahrungen erschien ihr die Welt. Eine neue Sonderausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek widmet sich nun ihrem…
Dabei wollte sie zweihundert Jahre alt werden, so reich an möglichen Erfahrungen erschien ihr die Welt. Eine neue Sonderausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek widmet sich nun ihrem außergewöhnlichen Schaffen: Mit nie nachlassender Neugier arbeitete sie bis zuletzt an einem über 120 Bücher umfassenden, vielfach ausgezeichneten Werk – mit zahlreichen Bezügen zur Musik, bildenden Kunst, Philosophie und Dichtung. In seiner Magie, Bildgewalt und poetischen Radikalität prägte es die deutschsprachige Literatur entscheidend.
Ausgangspunkt der neuen Ausstellung ist Friederike Mayröckers legendäre Wiener Schreibwohnung, ein Zetteluniversum am Übergang zum digitalen Zeitalter: In ihr türmte sich eine riesengroße Masse an Zetteln, Manuskripten, Büchern, Korrespondenzen, Kunstwerken und Alltagszeug zu Bergen, unter denen Möbel und Inventar zunehmend verschwanden: „nicht nur das Geschriebene auch die Existenz musz poetisch sein“. Die umfangreiche Schau bietet Einblicke in diesen alle Dimensionen sprengenden Nachlass.
Sie zeigt die enge Verbindung von Leben und Schreiben anhand von zahlreichen erstmals veröffentlichten Manuskripten, Briefen, Lebensdokumenten, Fotografien und Zeichnungen. Eine Virtual Reality-Installation lädt die Besucher*innen dazu ein, in Friederike Mayröckers Schreibräume einzutauchen und die Dichterin im O-Ton zu hören. Zahlreiche weitere Audio- und Filmdokumente ermöglichen neue Einblicke in Leben und Werk.
Das Frühwerk bis Anfang der 1970er Jahre ist im weitesten Sinne experimentell, beeinflusst von Surrealismus und Dadaismus. Die Arbeiten der darauffolgenden Jahrzehnte entziehen sich den geläufigen Kategorien. Große Prosabücher mit Titeln wie „Die Abschiede“ (1980), „Reise durch die Nacht“ (1984), „mein Herz mein Zimmer mein Name“ (1988) oder auch „brütt oder Die seufzenden Gärten“ (1998) gehören dazu, ebenso wie Gedichtbände und Bücher für Kinder. Das Spätwerk, darunter die Bände „études“ (2013), „cahier“ (2014) und „fleurs“ (2016), besteht aus biografischen Fragmenten, Erinnerungssplittern, Alltagsbeobachtungen sowie poetischen Tag- und Nachtträumen.
Leben und Schreiben„plötzlich aufgerufen bei meinem Namen / steh ich nicht länger im windstillen Panorama […] sondern drehe mich wie ein schrecklich glühendes Rad / einen steilen Abhang hinunter“, heißt es im Gedicht „Der Aufruf“ aus dem Jahr 1962. Als 15-jährige beginnt Friederike Mayröcker zu schreiben und wird nicht mehr damit aufhören. 1969 lässt sie sich vom Schuldienst beurlauben, 1975 wechselt sie zum Suhrkamp Verlag. Beides ermöglicht ihr, fortan noch kompromissloser eine „Schreibexistenz“ zu führen: „ans Herz gedrückt bis ans Ende, ach einzig diese betörende Umhalsung mit meiner Sprache welche HEIMAT“.
Zwischen der ersten Veröffentlichung des Gedichts „an meinem Morgenfenster“ im Jahr 1946 und Mayröckers letztem Buch „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ (2020) spannt sich ein Werk auf, das von einer sich stetig steigernden poetischen Intensität zeugt. Spracherfahrungen und Lebenswirklichkeit kommunizieren miteinander. Von den Kindheitserfahrungen im Paradiesgarten im niederösterreichischen Weinviertel bis zur radikalen Bearbeitung von Biographie und Welterfahrung in den letzten Büchern macht die Ausstellung die Stationen von Friederike Mayröckers Schreibweg erfahrbar.
KorrespondenzenDas Werk Friederike Mayröckers kann als fortgesetztes Gespräch gelesen werden. Neben den persönlichen Freund*innen sind es Dichter*innen und bildende Künstler*innen aus verschiedenen Zeiten, denen sich die Autorin nahe fühlt. Sie werden zu imaginären Gesprächspartner*innen. Viele der Gedichte und Prosastücke tragen Widmungen. Gehörtes und Gelesenes, aber auch Sätze und Wörter aus dem weit verzweigten Briefverkehr der Autorin, sind Material für die literarische Bearbeitung. So entsteht ein Netzwerk an Korrespondenzen zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Nebenbei erinnern die gezeigten Briefe an ein zu Ende gehendes Zeitalter intensiven brieflichen Austauschs.
„Werkkiste“: Ein Friederike Mayröcker-LaborDie Texte Friederike Mayröckers zeichnet eine besondere Vielstimmigkeit aus: Sie speisen sich aus Sinneseindrücken und alltäglichen Beobachtungen, aus Erinnerungen und Träumen, Lektüren und künstlerischen Begegnungen. Mayröcker notierte sie auf unzählige Zettel, regelmäßig auch auf Alltagsobjekte darunter Pappteller, Verpackungen und Wäschekluppen. Wie eine zweite Haut umgaben diese Notizen die Dichterin in ihrer Werkstatt. Aus diesem Material entstand ihre Literatur.
Was zeichnet dieses Schreiben aus?Was fasziniert daran? Welche Rolle spielen Mayröckers Zeichnungen innerhalb ihres Werks? Und was ist „brütt“? Diesen und anderen Fragen widmen sich die Schriftsteller*innen Anna Baar, Marcel Beyer, Sandro Huber, Teresa Präauer, Clemens J. Setz und Helga Schubert in eigens für die Ausstellung produzierten Videobeiträgen. Die Besucher*innen sind dazu eingeladen, die Schreibpraxis der Autorin ausgehend von Texten und Bildgeschichten zu erkunden.
Kinderbücher und ZeichnungenIn gut fünf Jahrzehnten veröffentlichte Friederike Mayröcker ein Dutzend Kinderbücher. Die zusammen mit der renommierten Illustratorin Angelika Kaufmann gestalteten Bilderbücher „Sinclair Sofokles der Baby-Saurier“ (1971), „Pegas das Pferd“ (1980), „Jimi“ (2009) und „Sneke“ (2011) sind Fortschreibungen ihrer sprachvirtuosen Dichtung. Sie alle eint der Hang zum Phantastischen. Sensible Themen wie Tod, Altern und Krankheit spielen darin eine wichtige Rolle, wie auch die Achtsamkeit gegenüber Tieren und Pflanzen. Bücher wie „Ich, der Rabe und der Mond“ (1980) laden zum Weitermalen und Weiterschreiben ein. Zu den frühesten Kindertexten gehört das unveröffentlichte Gedicht „Lied vom Eselein“ (1957). Mayröckers Erinnerungen an unbeschwerte Tage im Kindheitsgarten von Deinzendorf klingen hier an.
Die verspielten, surrealen, sehr intimen Zeichnungen bilden einen eigenen Werkkomplex. Sie sind das Spielbein der Autorin, Gegengewicht zu den großen Prosatexten. Es sind, so Mayröcker, „Spontangedichte mit Bleistift oder Filzstift“, sie „offenbaren wohl etwas von meinem (altgewordenen) Kindsein“. Auch in ihnen zeigt sich die Identifikation mit Tieren, darunter ein „Zittergaul“, ein „Rüsselhase“ oder ein „geschmetter ling“. Dem Schriftsteller und Gefährten vieler Jahre Ernst Jandl ist die Serie der engelhaften „Schutzgeister“ gewidmet. Viele Zeichnungen werden erstmals ausgestellt.
Kunst und MusikFriederike Mayröcker verstand sich als „Augenmensch“. Einflüsse der bildenden Kunst spielen in ihrem Werk eine große Rolle; poetische Einfälle entzünden sich an Kunstwerken, aber auch an Alltagseindrücken: „Das Bild wird, wenn ich Glück habe, sofort zum Wort, zur Metapher“. Zu Mayröckers Lieblingsmalern zählte unter anderem der englische Künstler Francis Bacon, außerdem Salvador Dalí, dessen Verschmelzung von Abstraktem und Konkretem die Schriftstellerin inspirierte. Mit der österreichischen Malerin Maria Lassnig verband sie eine von gegenseitiger Bewunderung geprägte Freundschaft. Die Verbindung zwischen Literatur und Kunst zeigt sich an einer Vielzahl von Gemeinschaftsarbeiten mit den unterschiedlichsten Künstler*innen.
Eine nicht weniger fruchtbare Beziehung hatte Friederike Mayröcker zur Musik. Ihr Werk ist reich an musikalischen Bezügen, das wiederholte Hören musikalischer Aufnahmen beflügelte ihr Schreiben. Eine besondere Bedeutung hatte Johann Sebastian Bach. Die intensive Auseinandersetzung mit Franz Schubert fand etwa in der poetischen Bearbeitung von Musiker*innenbiografien mit dem Titel „Heiligenanstalt“ (1978) ihren Niederschlag. Dass das Mayröcker’sche Werk umgekehrt auch Komponist*innen bis in die jüngere Gegenwart anregte, beweisen die in der Ausstellung präsentierten musikalischen Annäherungen von Elisabeth Harnik, Mauricio Kagel und Beat Furrer. Eine ganz besondere Hommage ist der künstlerische Beitrag der Schauspielerin und Sängerin Anja Plaschg (Soap&Skin): Auf ein von ihr selbst rezitiertes Gedicht Friederike Mayröckers antwortet sie mit einem ihrer Songs.
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