Der Fall Freud. Dokumente des Unrechts beleuchtet mit schonungsloser Präzision die letzten Monate der Familie Freud im nationalsozialistischen Wien und erzählt die Geschehnisse in den Jahren danach. Die systematische Beraubung Sigmund Freuds und seines Bruders Alexander wird detailliert nachgezeichnet, neue Erkenntnisse vertiefen das Wissen um das Schicksal und die Ermordung ihrer vier Schwestern Rosa, Maria, Adolfine und Pauline durch das NS-Regime.
Unveröffentlichte (Täter-)Dokumente
Das Sigmund Freud Museum konnte vor kurzem bislang unbekannte Unterlagen erwerben. Sie stammen aus dem Nachlass des von den Nazis eingesetzten „kommissarischen Verwalters“ des Internationalen Psychoanalytischen Verlags, der sich im Besitz von Sigmund und Anna Freud befand. Diese Dokumente bilden nun das zentrale Element der Ausstellung: In Zusammenschau mit hunderten originalen Akten, Geschäftsbriefen sowie Listen des Vermögensverwalters von Alexander Freud und den vier Schwestern geben sie Aufschluss über die rechtlichen und finanziellen Abläufe der NS-Verbrechen. Diese Aufzeichnungen machen eine weitere Perfidie öffentlich: „Der Begründer der Psychoanalyse konnte die gesamte Einrichtung der Berggasse 19 samt Antikensammlung nach London verfrachten, seine Emigration verlief somit für die Augen der internationalen Öffentlichkeit privilegiert.“ Hinter den Kulissen allerdings raubten die Nazis über den Umweg des Internationalen Psychoanalytischen Verlags nahezu seine gesamten Finanzmittel; dabei wurde sein Sohn Martin, Geschäftsführer des Verlags, massiv unter Druck gesetzt.
Alexander Freud war Inhaber des Allgemeinen Tarif-Anzeigers, als Frachtexperte international anerkannt und zu größerem Wohlstand gelangt als sein berühmterer Bruder. Doch auch er konnte nur unter Entziehung allen Hab und Guts sein Leben und das seiner Frau retten. Mittellos verließen sie Wien, flüchteten über Zürich nach London und dann weiter nach Kanada. Vier der fünf Schwestern Freuds lebten 1938 in Wien – ihnen konnte keine Ausreise ermöglicht werden. Sie wurden aus ihren Wohnungen vertrieben, in eine „Sammelwohnung“ einquartiert, beraubt, deportiert und 1942 ermordet.
Das Schicksal der Schwestern
Die Ausstellung präsentiert neue Rechercheergebnisse und klärt zentrale Fragen der Freud-Forschung rund um das Schicksal der Schwestern – dabei wird mit dem Mythos ihres Zurückgelassenwerdens aufgeräumt: „Bisher unveröffentlichte Unterlagen und Briefe der Familienmitglieder zwischen Wien, London und New York schildern die Vorkehrungen der Brüder und weiterer Verwandter, die betagten Frauen in Wien abzusichern, sowie ihre – letztlich fruchtlosen – Bemühungen, die Schwestern ins Ausland zu bringen.“ Heute in der Library of Congress (Washington, D.C.) befindliche Nachrichten der Schwestern aus Wien vergegenwärtigen ihre zunehmend verheerenden Lebensbedingungen vor dem Hintergrund der antijüdischen Maßnahmen. Diese persönlichen Aufzeichnungen wie auch Oral-History-Interviews von Wienerinnen, die sich um die betagten Frauen kümmerten, machen ihre Angst, Verzweiflung und immer wieder aufkeimende und enttäuschte Hoffnung spürbar. 1942 wurden die vier Damen aus dem Altersheim Seegasse nach Theresienstadt deportiert und anschließend ermordet: Adolfine Freud starb im Konzentrationslager Theresienstadt, Rosa Graf, Pauline Winternitz und Maria Freud wurden im Vernichtungslager Treblinka getötet.
Opfer und Täter – ein doppelter Blick
In der Ausstellung werden sowohl Opferschicksale als auch Tätergeschichten dokumentiert. Sie wirft darüber hinaus Schlaglichter auf den Umgang mit den NS-Verbrechen im Nachkriegsösterreich – bis hin zur Gründungsgeschichte des Sigmund Freud Museums. So wird „Der Fall Freud“ zu einer schonungslosen Spurensuche im Spannungsfeld von Erinnerung, Verantwortung und dem langen Schatten der Geschichte.